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Die Meerhexe

(Übersetzer als Horacio Stamford)

Ausgabe #05 der Aether Gazette Heftromanserie

Heftroman
Erschienen 28. Januar 2022
Seitenzahl der Print-Ausgabe: 56
Erhältlich als eBook & Print-Ausgabe

Kurzbeschreibung:

Aus dem Meer kam eine wunderschöne Frau. Und sie kam, um Rache zu üben. Rache, die viel zu lange schon aufgeschoben worden war. Dies ist die Sage von Heldra Helstrom, die man auch Heldra die Schöne und Heldra die Böse nannte.

Leseprobe

Helda Helstrom trat auf eine ganz besondere Weise in mein Leben. Und obgleich sie wohl die verdammenswerteste Frau der Welt war, so war sie, meiner Meinung nach, aber doch gleichzeitig auch die begehrenswerteste Frau, die jemals gelebt hat.

Seit drei Tagen schon hämmerte ein Nordoststurm an der Küste. Es war Spätherbst und so kalt, wie es nur an unserer Nordatlantikküste sein konnte. Drei Tage hatte ich mich vor dem Sturm in meiner Hütte verkrochen und ich fühlte mich beengt.

Also zog ich mir Gummistiefel, Ölzeug und Süd-Wester an, trat hinaus und machte einen Spaziergang am Ufer entlang.

Mein kleines Häuschen stand auf der Spitze einer hohen Klippe. Ein breiter, sicherer Weg führte hinunter zum Strand, und ich eilte ihn hinab.

Der kurze Tag neigte sich bereits dem Ende entgegen. Nachdem ich ein paar hundert Meter am Ufer entlang gestapft war, beschloss ich, zu meinem gemütlichen Kamin zurückzukehren. Zumindest hatte mir der Spaziergang Appetit verschafft.

Die Dämmerung brach an und zu meiner Verblüffung musste ich feststellen, dass diese ganz anders war als an einem gewöhnlichen Herbstabend, denn die Dunkelheit brach so abrupt herein, dass ich froh war, eine starke Laterne mitgenommen zu haben. Das in ihr leuchtende Æthergemisch erhellte meinen Weg.

Gerade wollte ich die Klippen hinaufsteigen, da blieb ich ungläubig stehen. Mir war, als wenn ich in den Fluten des Meeres eine Frau gesehen hätte. Aber das konnte doch nicht sein.

Um mich zu vergewissern, richtete ich den Strahl der Ætherlaterne in Richtung der Wellenkämme, die sich am Ufer brachen. Und da sah ich sie. Es war tatsächlich eine Frau. Und sie stand mitten in den Wellen.

Ich wollte ihr zu Hilfe eilen, doch etwas hielt mich zurück. Ich konnte mich nicht bewegen. Es war, als wenn eine Macht, die stärker als mein eigener Wille war, mich an Ort und Stelle fesselte.

Die Frau wurde von einer Welle erfasst und ich glaubte, dass sie nun versinken würde, aber etwas Seltsames geschah: Der gigantische Wellenberg senkte sich langsam, beinahe sanft, auf die Frau nieder, hob sie empor und trug sie dem Ufer entgegen. Dann setzte er seine lebende Last vorsichtig ab, wie eine Amme ein Baby in die Wiege legt.

Für einen kurzen Augenblick stand die Frau hüfttief in einer Schaumkrone, dann watete sie ruhig an Land und kam mit schwingendem Schritt auf den Strahl meiner Laterne zu.

Die tosenden Wellen vermischten sich mit dem Brausen des Sturms und doch vernahm ich das Lärmen der Naturgewalten nur vage. Ich war viel zu fasziniert von der Schönheit dieses angeschwemmten, lebenden Treibguts und war sicher, dass das Meer noch nie etwas bezauberendes an Land geworfen hatte.

Kein Fetzen Kleidung verdeckte ihren unvergleichlichen Körper. Allen Naturgesetzen zum Trotz glühte ihre Haut rosig-weiß, obwohl sie doch von der eisigen Kälte der winterlichen See, blau-weiß gefroren sein müsste.

Ich fasste mir ein Herz und rief ihr zu: »Hallo! Wo kommt ihr her? Seid ihr wirklich … oder sehe ich etwas, was nicht ist?«

»Ich bin wirklich.«, antworte sie mit einer klaren, silbernen Stimme. »Und ich komme von dort draußen.« Dabei machte sie mit ihrem wohlgeformten Arm eine Geste in Richtung des tobenden Ozeans.

»Das Schiff, auf dem ich mich befand, drohte zu sinken, also zog ich mein Gewand aus, warf mich an Ráns Busen und ihre Pferde brachten mich sicher an Land. Du hast wohl daran getan, meiner Bitte Folge zu leisten, als ich dich bat, dich nicht zu bewegen, während sie mich an das Ufer brachten. Rán kann eine zornige Göttin sein und ist euch Sterblichen nicht gerade zugetan.«

Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie mich um etwas gebeten haben sollte. Wie hätte ich diese Bitte auch vernehmen können angesichts der tosenden Fluten und des wilden Sturms.

»Rán?«, fragte ich. »Die Frau des Meeresgottes Ägir?«

Sie antwortete nicht, doch schien genickt zu haben. Was war das für eine seltsame Frau, die von Rán und ihren Pferden sprach, womit sie wohl die weißmähnigen Wellen des alten Meeres meinte?

»Das Riff ist zehn Meilen vom Land entfernt!,« sagte ich. »Wenn du es solange auf dem Wasser ausgehalten hast, dann musst du eine von Ráns Töchtern sein. Ist das so?«

Wieder gab sie keine Antwort.

Doch dann fiel mir auf, dass sie ja komplett nackt vor mir stand. Und das in diesem gewaltigen Sturm.

»Komm mit, ich habe ein Haus in der Nähe. Hier kannst du nicht bleiben.«

»Führe, und ich werde dir folgen«, antwortete sie schlicht.

Wir nahmen den Weg hinauf. Sie ging neben mir. Ihre Schritte waren viel leichter als meine. Ich fühlte mich in ihrer Nähe wohl und das, obwohl sie kein Wort sprach. Mir kam es vor, als wenn sie in meinem Inneren zu lesen begonnen hatte. Und es schien mir, dass das, was sie erblickte, ihr Trost spendete.

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