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Mein Beitrag zum Autoren-Adventskalender 2020

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Verdampfte Weihnachten

 

Rudolph, das Rentier mit der roten Nase, machte sich bereit. Er scharrte mit den Hufen und überprüfte mit einem kurzen Blick, ob auch die anderen Acht ihre Vorbereitungen abgeschlossen hatten.

Dasher, Dancer, Prancer, Vixen, Comet, Cupid und Donner nickten.

Nur Blitzen war augenscheinlich noch nicht ganz fertig, denn er schüttelte den Kopf.

Rudolph seufzte, schnaubte ungeduldig und schaute zur Uhr im hölzernen Turm hinauf.

Hm, dachte er, eine Verzögerung von wenigen Sekunden können wir wohl verschmerzen.

Und genau in diesem Moment signalisierte ihm Blitzen, dass er bereit war.

Rudolph würde sich später erkundigen, was denn Blitzen aufgehalten hatte. Jetzt galt es, den Start so schnell und elegant wie möglich zu bewerkstelligen.

Er spannte seine Muskeln an und drückte die Hufe in die Startmulden. Die anderen taten es ihm gleich.

»Ready for Take off!«, erklang die Stimme des leitenden Flugwärter-Elfs vom Tower.

Ich bin schon fertig gewesen, da warst du noch ein Einpacker Rang 2, dachte Rudolph. Natürlich sprach er das nicht aus, sondern hob einen Huf und deutete damit an, dass er und seine anderen Rentiere bereit waren.

Nun wurde es hell in der Abflughalle. Das große, schwere Tor, welches den Hangar abschirmte, öffnete sich.

Dabei zischte es laut, Dampfschwaden ergossen sich in die Halle und für einen kurzen Moment konnte man den Huf nicht vor den Augen erkennen.

Tja, damals, es mögen vielleicht 100 Jahre gewesen sein, da hatten die Elfen noch unter Aufbietung ihrer vereinten Muskelkraft, das Tor mit Seilen und Flaschenzügen geöffnet.

Aber Santa war der Meinung, man müsse mit der Zeit gehen und hatte sich einen dampfbetriebenen Toröffner in den Hangar einbauen lassen.

Pah, dachte Rudolph verächtlich. Wenn man mit der Zeit gehen wollte, dann hätten sie schon längst keinen altmodischen Schlitten mehr, sondern könnten mit Dampfflüglern fliegen.

Die Rentiere hätten dann ihren Ruhestand genießen und es sich bei Hafer und Stroh mit einer Tasse Teewasser im Stall gemütlich machen können.

»Die Tradition verlangt, dass ich mit Schlitten und Rentieren komme. Das ist seit Jahrhunderten so und das bleibt auch so.«, hatte Santa gesagt und damit jede Hoffnung auf Frührente zunichtegemacht.

Ein lauter Knall ließ Rudolph aus seinen Gedanken fahren.

Das Tor war nun geöffnet, eine Schwadron Flugsicherungs-Elfen hatte sich in der Luft positioniert und sie winkten dort mit ihren Lampenstäbchen hin und her.

Na dann, dachte Rudolph, es geht wieder los.

Er stemmte sich nun mit aller Kraft in die Startmulde und die anderen folgten seinem Beispiel.

Seine Nerven, und auch die der anderen Rentiere, waren zum Zerreißen gespannt. Wo blieb der Startbefehl? Wann kam er?

Innerlich schimpfte er auf Santa. Denn dieser hatte seit ein paar Jahrzehnten einen Hang zur Theatralik entwickelt und ließ sich gern Zeit damit.

Rudolphs Beine begannen leicht zu zittern. Wenn er jetzt nicht langsam starten würde, dann …

Und im gleichen Augenblick ertönte eine Stimme, die sich dröhnend in der Halle überschlug: »Hooh!«

Na endlich. Rudolph stieß sich mit einem Ruck aus der Mulde ab. Wie im Takt und als wenn sie ein Rentier wären, taten das auch die anderen Acht.

Sie schossen nach vorn und rissen damit den Schlitten, samt Santa und Geschenke-Sack, mit sich.

Nur noch wenige Meter trennten sie von der Öffnung, aus der sie in den Nachthimmel hinausfliegen würden. Ihre Geschwindigkeit steigerte sich mit jedem Zentimeter, den sie zurücklegten.

Rudolph legte die Ohren an. In wenigen Augenblicken würden sie den Boden unter den Hufen verlieren und auf Flugmodus schalten.

Gleich wäre es soweit sein. Nur noch wenige …

Ein schrilles Kreischen ertönte und riss das Leit-Rentier aus seiner Konzentration.

Dann heulten Sirenen. Rote Warnleuchten flammten auf und die Flugleit-Elfen mit den Leuchtstäben bildeten ein großes, rotes X mitten in ihrer Flugbahn.

Scheiße!, dachte Rudolph, ein Notfall! Sein Gehirn schaltete sofort und läutete das Notbremsmanöver ein.

Er stemmte seine Hufe nach vorn und grub sich in die Startbahn.

Jaha, dachte er.

Denn sie hatten bereits den Schwebemodus erreicht und damit war der Kontakt zum Boden abgerissen. Demzufolge stemmten sich die Hufe Rudolphs ins Nichts. Der mangelnde Reibungswiderstand ließ das Bremsmanöver verpuffen.

Das Leit-Rentier erinnerte sich plötzlich daran, dass ihnen ihr Fluglehrer eine Bremsung im reibungslosen Zustand gar nicht erklärt hatte.

»Wenn alles reibungslos läuft, dann braucht ihr keine Notbremsung.«, hatte er auf Nachfragen geantwortet und Rudolph begriff nun, dass sie sich da wohl gründlich missverstanden hatten. Das half ihm jetzt allerdings auch nicht weiter.

Hilflos ruderte er mit den Hufen und Läufen in der Luft herum und sie rasten auf das rote X zu. Die Flugleit-Elfen bemerkten das schnelle herannahen der Rentiere zu spät. Und so geschah das Unvermeidliche: Rentiere, Schlitten und Elfen prallten ineinander, umeinander und übereinander.

Rudolph bekam einen Elfenlatschen ins Gesicht, ein Elf dafür den Huf von Prancer. Cupid und Comet verkeilten sich ineinander und ihre Schnauzen wurden so aneinandergedrückt, dass es aussah, als wenn sie sich küssen wollten. Ein Umstand, den beide in späteren Rückblicken leugneten.

Dasher diente als unfreiwilliges Reittier zweier Elfen, die ihrerseits Vixen Huckepack nahmen. Kurz gesagt: Es ging drunter und drüber.

Elfen und Rentiere bildeten einen Knäuel und hätten glatt als modernes Kunstwerk durchgehen können.

Als sich ein paar Momente später das Chaos gelichtet und sich Elf und Rentier entwirrt hatten, war von Santa nichts zu sehen.

Der Schlitten lag auf der Seite im Schnee des Nordpols. Eine Kufe hatte sich gelöst und wackelte hin und her.

Einige Rettungselfen waren bereits an die Unglücksstelle geeilt und wieder andere versuchten, mit Schaufeln den Geschenke-Sack aus dem Schnee zu buddeln.

»Melde: Hier ist er nicht!«, rief ein Rettungs-Elf.

»Melde: Hier auch nicht!«, ein anderer, der allerdings genau neben Ersterem stand und von diesem mit einem Schimpfwort auf eben jenen Umstand aufmerksam gemacht wurde. Das führte nach einem kurzen, verbalen Schlagabtausch zu einer ordentlichen Prügelei.

Andere Elfen eilten hinzu, um die Streitenden zu trennen. Leider aber konnten sich die Hinzugekommenen auch nicht einigen und so prügelten nun immer mehr von ihnen aufeinander ein.

Fassungslos standen die Rentiere am Rand und betrachteten das Getümmel.

»Elfen, pah.«, schnaubte Rudolph verächtlich und gab dann Befehle an seine Rentiertruppe: »Ausscheren, Nase in den Schnee, Santa suchen.«

Dasher, Dancer, Prancer, Vixen, Comet, Cupid, Donner und Blitzen standen stramm, hoben einen Huf an ihr Geweih, röhrten wie aus einer Schnauze: »Sir! Jawohl, Sir!«, und setzten sich dann in unterschiedliche Richtungen in Bewegung.

Rudolph selbst kletterte auf die Trümmer des Schlittens, um die Lage zu überblicken.

Nach wenigen Minuten und nur einige hundert Meter entfernt, erblickte er den auf und nieder hüpfenden Blitzen.

»Hier! Ich hab ihn!«, rief er. Neben sich zwei schwarze Stiefel, die in einer Schneewehe steckten und in den Himmel ragten.

Sie brauchten jetzt die Hilfe der Elfen, denn sie, als Rentiere, waren eher ungeeignet, den dicken Weihnachtsmann aus dem Schnee zu schaufeln.

Also musste sich Rudolph irgendwie Gehör verschaffen.

Er ging auf die auf sich einschlagenden Elfen zu und setzte dann zu einem Röhren an.

Es sollte majestätisch und gebieterisch klingen, doch leider war er ein Weihnachts-Rentier. Und diese hatten, anderes als ihre gewöhnlichen Artgenossen ein eher leises und schmeichelndes Organ. Ja, man konnte sagen, sie piepsten eher verhalten.

Trotzdem schaffte er es damit, die Elfen zu trennen. Denn diese begannen, einer nach dem anderen, laut zu lachen.

Was solls, Hauptsache, sie haben aufgehört, dachte Rudolph.

Elfen haben die Eigenart, sich oft und häufig zu prügeln. Ein Umstand, der in allen anderen Weihnachtsbüchern, Geschichten und Erzählungen aber gern verschwiegen wird.

Sie sind aber ebenso in der Lage, sich schnell wieder zu vertragen. So waren sie bald alle erneut ein Herz und eine Seele und eilten, Santa aus den Schneemassen auszugraben.

Nach einigem hin und her, sowie einer erneuten Prügelei der Elfen, den Grund konnte später niemand mehr nennen, war das aber schon nach 30 Minuten beendet.

Santa stand, zwar leicht wacklig auf den Beinen, aber immerhin, wieder und besah sich die Schäden am Schlitten.

»Totalschaden.«, stellte Plitsch, der Obermechaniker der Elfen, fest.

»Kann man reparieren.«, erwiderte Hatsch, Elfen-Untermechaniker.

»Kann man nicht.«, meinte Plitsch und wand sich Hatsch zu.

Dieser drehte erst den Kopf, dann sich selbst und sah Plitsch böse funkelnd an. »Kann … man … doch.«, wiederholte er betont langsam seine vorherige Aussage.

»Wir können das gern ausdiskutieren.«, meinte der Elfen-Obermechaniker und krempelte sich die Ärmel hoch.

»Jederzeit.«, antwortete Hatsch und ballte die Fäuste.

Doch bevor die beiden Elfen sich auf sich stürzen und damit die dritte Massenhauerei des Abends einleiten konnten, ging Rudolph dazwischen: »Habt ihr vergessen, was heute für ein Tag ist?«, fragte er die beiden Streitelfen.

Sie schauten schuldbewusst zu Boden.

»Ja, schämen solltet ihr euch.«, murrte das Rentier und die beiden Elfen umarmten sich.

»Tut mir leid, du hast recht. Der Schlitten ist ein Totalschaden.«, sagte Hatsch.

»Nein, nein.«, erwiderte Plitsch. »Du hast recht. Das kann man reparieren.«

Einen Augenblick später lagen die beiden Elfen im Schnee und jeder hatte den anderen im Schwitzkasten.

Rudolph seufzte. Elfen!

Da ertönte die brummige Stimme des Weihnachtsmannes: »Sofort aufhören, ihr Zwei!«

Im Nu hatten sich die Elfen wieder lieb und rappelten sich auf.

»Was ist jetzt mit dem Schlitten? Könnt ihr ihn reparieren?«, fragte er und musterte Plitsch und Hatsch.

Die Mechaniker besahen sich nun den Schlitten von allen Seiten und ließen auch die verbogene Kufe nicht aus.

Schließlich sahen sie sich an, nickten und antworteten zusammen: »Tut uns leid, Santa. Der Schlitten ist hin. Wir können ihn zwar reparieren, aber das wird erst morgen was.«

Rudolph kniff die Augen zusammen. Morgen? Hatten die beiden wirklich Morgen gesagt? Heute war Heilig Abend. Sie mussten heute fahren. Sonst wäre es um das Weihnachtsfest in diesem Jahr geschehen.

Und das wäre das erste Mal seit Anbeginn ihrer Zeitrechnung, dass der Weihnachtsmann nicht am Heiligen Abend in die Häuser der Menschen kommen würde.

»Jungs.«, sagte Santa ruhig und beugte sich zu den Elfen herab. »Ihr werdet doch sicher einen Notfallplan haben. Was ist denn mit dem Ersatzschlitten?«

Wieder sahen sich die Elfenmechaniker an. Dann scharrten sie verlegen mit ihren Stiefeln im Schnee.

»Naja … also … der Ersatzschlitten, den haben wir schon ausgeschlachtet.«, antwortete Plitsch. Er traute sich dabei aber nicht, dem Weihnachtsmann in die Augen zu sehen.

Für einen kurzen Moment herrschte Stille am Nordpol.

Dann sagte Santa: »Ihr habt ihn ausgeschlachtet?«

»Tja.«, antwortete Hatsch.

»Wieso habt ihr den ausgeschlachtet? Der war doch für den Notfall da. Und jetzt ist genau dieser eingetreten. Wieso weiß ich denn nichts davon? Ich wünsche eine Erklärung.«

Santas Stimme war nun streng geworden und er kreuzte die Arme vor der Brust. Das tat er nur, wenn es wirklich wichtig wurde.

Leise antwortete Plitsch: »Weißt du noch Santa? Vor vielen, vielen Jahren bist du mit dem Schlitten an diesem Löwen in Ägypten vorbeigeschrammt, hast ihm dabei die Nase abgerissen und damit die Kufen unbrauchbar gemacht.«

»Und ein paar Jahre später hattest du ein paar Zimtpunsch zuviel, bist in das Lederballstadion von Stonehenge gekracht und hast das völlig demoliert.«, ergänzte Hatsch.

»Und den Schlitten gleich mit.«, fügte Plitsch hinzu.

»Richtig. Und weil du nicht wolltest, dass das Frau Santa mitbekommt, hast du uns den Auftrag gegeben, den Schlitten mit den Ersatzteilen des Alten zu reparieren. Du wolltest dich um Ersatz kümmern.«

Santa wurde rot im Gesicht. Die Farbe passte perfekt zu Rudolphs Nase. Das Rentier sah den Weihnachtsmann kopfschüttelnd an.

»Das … äh … ja, weil … das habt ihr aber niemandem erzählt, oder?«, druckste Santa.

Beide Elfen verneinten und schüttelten vehement ihre Köpfe dabei.

»Gut, gut.«, sagte Santa und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Sonst hätte ich euch jetzt auch töten müssen.«

Erneut herrschte Stille am Nordpol. Elfen und Rentier sahen Santa fassungslos an.

»Das war ein Scherz.«, sagte dieser und zwinkerte ihnen zu.

Rudolph legte den Kopf schief. »Wieviel Punsch hast du schon intus?«, fragte das Rentier.

»Komm, das war doch witzig. Ihr hättet eure Gesichter sehen sollen. Hahaha.« Der Weihnachtsmann lachte. Aber als er bemerkte, dass ihn die anderen nur vorwurfsvoll ansahen, verstummte er schnell wieder.

»Humorloses Volk.«, brummelte er sich in den Bart.

»Wie auch immer.«, sagte Rudolph. »Was machen wir jetzt?«

Santa überlegte. Plitsch überlegte. Hatsch überlegte. Rudolph wartete ab.

»Es ist wirklich nichts zu machen?«, fragte der Weihnachtsmann dann.

»Nein, Santa. Nicht mehr heute. Wir müssen ja erst mit der Dampf-Wunschmaschine die Ersatzteile herstellen.«, antwortete Plitsch.

»Und dazu muss sie aufwärmen, unsere Zeichner müssen die Konstruktionspläne erstellen und dann muss alles in die Maschine eingegeben werden. Das braucht Zeit.«, ergänzte Hatsch.

»Verdammte Ausscheidung.«, fluchte Santa und hielt sich im gleichen Augenblick die Hand vor den Mund. »Das hat keiner von euch gehört. Kein Wort zu Miss Santa, ist das klar?«

Elfen und Rentier schüttelten die Köpfe und dann nickten sie.

»Tja.«, sagte der Weihnachtsmann schließlich. »Dann ist für mich heute Feierabend.« Er setzte sich in Bewegung.

»Moment!«, hielt ihn Rudolph auf. »Du kannst doch jetzt nicht einfach nach Hause gehen. Was ist denn mit all den Kindern auf der Welt, die auf dich warten?«

Santa drehte sich um und sah das Rentier an. »Wenn du eine Idee hast, dann nur raus damit, Rudi.«

»Ich hasse es, wenn du mich Rudi nennst.«, schmollte das Rentier. »Aber ja, ich habe eine Idee.«

Nun leuchteten Santas Augen auf. »Wirklich? Dann raus damit.«

»Du brauchst einen Ersatz.«

Santa ließ den Kopf sinken und das Leuchten in seinen Augen erlosch.

»Wir haben doch schon gesagt, dass wir keinen Ersatz haben.«, sagte Plitsch.

»So meinte ich das auch nicht.«, erwiderte Rudolph und erklärte seine Idee: »Wir brauchen einen Piloten. Einen Piloten, der einen Dampfflüger steuern kann. Der muss heute Abend die Auslieferung übernehmen.«

Santa fuhr auf: »Ich kann doch einem Menschen nicht meinen Sack überlassen und die Auslieferung übergeben. Wie stellst du dir das vor, Rudi … Rudolph?«

»Du fährst natürlich mit.«, antwortete das Rentier ruhig.

»Ich mache was?«, fragte der Weihnachtsmann jetzt verdutzt.

»Du brauchst nur einen Piloten. Wenn die Auslieferung vorbei ist, dann wird er geelfdingst und hat danach alles vergessen.«, erklärte Rudolph.

Santa griff sich unter dem Bart ans Kinn. »Hm, das könnte funktionieren. Was meint ihr? Hatsch? Plitsch?«

Die Elfen erschraken. Dann antwortete Hatsch: »Naja, etwas gewagt, aber es könnte klappen.«

Plitsch fügte hinzu: »Es ist die Lösung. Eine andere fällt mir nämlich nicht ein.«

»Gut.«, brummte Santa und wurde ernst. »Dann machen wir das so. Wir brauchen natürlich den Besten der Besten.«

Santa stapfte los und entfernte sich. Nach einigen Schritten stoppte er wieder und drehte sich um. »Was ist denn? Wo bleibt ihr denn?«

Verwirrt antwortete Rudolph: »Wie? Was? Wohin solls denn gehen?«

»Zu unserer Werkbank. Wir müssen schließlich einen Piloten suchen.«, sagte Santa und marschierte wieder los.

Elfen und Rentier folgten ihm mit schnellen Schritten.

Kurze Zeit später standen sie in der Halle mit den Werkmaschinen.

»Wir benutzen die Gut oder Böse Maschine. Damit werden wir schon den richtigen finden.«, sagte Santa, setzte sich vor ein großes Pult und drückte auf den Knöpfen und Hebeln herum.

Auf einer Anzeige über dem Pult begann es zu flackern.

»Gut, dass sie vor ein paar Jahren diese Glühkathoden erfunden haben. Stellt euch nur mal vor, wir müssten noch mit den gelochten Karten arbeiten.«, sagte Santa und strahlte über das ganze Gesicht.

Er tippte hier und da einen Knopf, drehte an dieser und jener Kurbel und wartete, bis sich die elektrostatische Bildablenkung einschalten würde.

Kurze Zeit später flimmerten Buchstaben und Zahlen auf einer, von den Menschen so genannten, Bildröhre.

»Hm.«, machte Santa und kraulte sich den Bart.

»Was ist los?«, fragte Rudolph und die beiden Elfen streckten neugierig die Köpfe vor.

»Das ist nicht gut.«, murmelte der Weihnachtsmann, ohne auf die Frage des Rentieres einzugehen.

»Was ist nicht gut?«, versuchte es Rudolph erneut.

Diesmal reagierte Santa: »Es scheint so, als wenn die Besten der Besten schon verplant sind. Ich hab sogar die Wenigerbesten der Besten und die Najaesgehtsobesten der Besten eingegeben. Alle unterwegs, krank oder tot.«

Elfen und Rentier sahen sich an und zuckten mit den Schultern.

»Halt!«, rief Santa plötzlich, und begann hektisch an einer blauen Kurbel zu drehen. »Ja, da ist was.«

Rudolph reckte den Hals und versuchte, etwas auf dem Anzeigefeld wahrzunehmen. Das Gleiche taten auch Hatsch und Plitsch.

»Oh.«, sagte Santa. »Aha … auweia … naja, wenn’s nicht anders geht.«

Dem Rentier wurde es nun zu bunt. Er öffnete den Mund, um energisch nachzufragen, was denn so Oh und Aha und Auweia wäre, als eine verschlafene Stimme ertönte: »Schnauzilein, bist du das?«

»Mist.«, entfuhr es dem Weihnachtsmann.

Miss Santa bog, in einem rosaroten Morgenrock und grünen Pantoffeln gekleidet, um die Ecke.

In ihren Haaren steckten kunterbunte Lockenwickler und in ihrem Gesicht hatte sie eine grüne Masse verteilt. »Aaaaahhhh!«, schrien Santa, Elfen und Rentier gleichermaßen auf.

»Puh. Jungs, das ist nur ne Gurkenmaske. Kein Grund zur Aufregung. Sagt besser nichts.«, flüsterte der Weihnachtsmann und beugte sich dabei zu den dreien hinab.

»Was machst du denn hier? Ich dachte, du arbeitest? Bist du schon fertig?«, fragte Miss Santa verschlafen.

»Ja … äh nein … der Schlitten hat eine Panne und …«, antwortete der Weihnachtsmann.

Weiter kam er nicht, denn Miss Santa fiel ihm ins Wort: »Eine Panne? Es ist der Heilige Abend und du hast ne Panne? Also wirklich, Schnauzi, du arbeitest nur einen einzigen Tag im Jahr und dann sowas. Du bist wirklich ein Drückeberger. Ich hätte auf meine Mutter hören sollen.«

»Aber Schnucki, ich …«, versuchte der Weihnachtsmann eine Erwiderung. Doch gegen den Redefluss von Miss Santa kam er nicht an.

»Manch einer würde sich freuen, nur einen Tag im Jahr zu arbeiten. Aber selbst das ist dem Herren ja anscheinend zu viel. Was solls denn dann heute werden? Weihnachtspunsch saufen bis zum Umfallen? Und ja, klar, natürlich. Elf und Leit-Rentier dabei. Ich glaub, mein Rentier pfeift.«

Rudolph überlegte, wann er denn zuletzt gepfiffen hatte. Dann fiel ihm auf, dass er persönlich ja gar nicht damit gemeint war.

»Du willst ja wohl jetzt nicht zu Hause bleiben, oder?«, fragte Miss Santa scharf und ihre Stimme hatte einen drohenden Ton angenommen.

Schnell versuchte der Weihnachtsmann, seine Frau zu besänftigen: »Aber nein, Schnucki, wo denkst du hin. Wir haben uns schon eine Lösung überlegt und sind gerade dabei …«

Wieder unterbrach sie: »Was ist das denn für eine Lösung? Raus mit der Sprache.«

Hektisch drückte Santa auf den Tasten herum und die Maschine begann zu rattern. Lämpchen in bunten Farben leuchteten auf und es blinkte und blitzte.

Die beiden Elfen-Mechaniker traten erst einen, dann zwei Schritte zurück. Rudolph folgte ihrem Beispiel.

»Wir … wir … holen uns einen Dampfflüglerpiloten aus der Menschenwelt. Der fährt, wird nach erledigter Arbeit geelfdingst und das wars.«, stotterte der Weihnachtsmann.

Miss Santa sah ihn schief an. »Na, da bin ich ja gespannt.«

Es öffnete sich eine kleine Luke in der Decke, aus der eine goldene Kugel in eine durchsichtige, röhrenartige Konstruktion fiel.

Sie folgte der vorgegebenen Bahn, bog an einer Kurve an, durchlief eine Art Röhrenlabyrinth und dann drehte der Weihnachtsmann mal links, mal rechts an zwei Kurbeln.

Der hölzerne Untergrund wurde angehoben, abgesenkt und kunstvoll steuerte Santa die Kugel damit an verschiedenen Löchern vorbei, in die sie auf keinen Fall fallen durfte. Zum Schluss landete sie auf einem kleinen Vorsprung.

Santa drehte an einer roten Kurbel und das Podest wurde, mitsamt der Kugel, durch Zahnräder und Umlenkrollen in die Höhe gehoben.

Am höchsten Punkt angekommen, begann sich der kleine Vorsprung nach vorn zu neigen. Dadurch bekam die Kugel wieder etwas Schwung, rollte auf das Ende des Vorsprungs zu und … fiel in die Tiefe.

Schnell sprang der Weihnachtsmann an Elfen, Rentieren und Miss Santa vorbei, klappte eine Abdeckung auf, unter der ein großer, roter Knopf erschien und hämmerte mit der Faust darauf.

Jetzt öffneten sich drei Luken im Boden, aus denen sich kleine Trampoline erhoben.

Die Kugel fiel direkt auf das Erste, sprang wieder in die Höhe, landete auf dem Zweiten und das Prozedere wiederholte sich bis zum Dritten.

Das letzte Trampolin schien fester gespannt zu sein, als seine Vorgänger, denn die Kugel wurde beim Auftreffen auf selbigem mit einer solchen Wucht wieder in die Höhe katapultiert, dass sie über die Maschine hinaus schoss.

Santa griff an die Seite der Apparatur und holte dort eine Art Trichter hervor, der an einem langen Holzstiel befestigt war.

Schließlich blieb er stehen und fixierte die, jetzt wieder herabsausende, Kugel mit den Augen. Er machte einen kurzen Korrekturschritt nach links. Dann einen nach vorn.

Und endlich hob er die Trichterstange hoch hinauf und fing die Kugel gekonnt auf.

Zufrieden grinste er und sagte: »Na, das war doch gar nicht so schlimm.«

Dann holte er die Kugel aus dem Trichter, öffnete sie mit einem Dreh und fischte einen kleinen Zettel aus ihr hervor.

Santa las die Notiz, schüttelte dann ungläubig den Kopf und las sie noch einmal.

Das wiederholte er insgesamt dreimal. Dann seufzte er.

Rudolph hielt die Spannung nicht mehr aus und fragte: »Was steht denn auf dem Zettel, Santa?«

»Hier, lies selbst.«, antwortete der Weihnachtsmann und hielt dem Rentier diesen entgegen.

Rudolph legte den Kopf schief und sah ihn vorwurfsvoll an.

»Ach, entschuldige.«, sagte Santa, denn Rentiere können nicht lesen. Auch keine Weihnachts-Rentiere. Das musste ihm in der ganzen Hektik wohl kurzzeitig entfallen sein.

»Damit wir nicht alle dumm sterben …«, sagte Miss Santa und unterbrach sich im gleichen Augenblick selbst.

Die Angewohnheit, Sprichwörter der Menschen zu übernehmen, konnte hin und wieder lästig sein. Als Bewohner der Weihnachtswelt waren sie schließlich unsterblich.

Zumindest, solange irgendjemand an sie glaubte.

Sie räusperte sich kurz und begann ihren Satz erneut: »Hrmh. Also, damit wir nicht alle dumm bis in alle Ewigkeit leben müssen …« Hier unterbrach sie sich zwar ebenfalls, dies diente aber nur einer Spannungspause. »Was steht auf dem Zettel. Und nein, halt mir diesen nicht hin. Du wirst ihn vorlesen.«

Santa zog schnell den Arm zurück, mit dem er ihr gerade den Zettel übergeben wollte.

»Natürlich nicht, Liebstes.«, sagte er und lächelte Miss Santa an. Diese tippelte mit ihren Latschen auf dem Boden und so beeilte er sich, den Zettel vor die Augen zu halten. Leise las er vor: »Ausgewählt wurde … Kate, Dampfflüglerpilotin aus Berlin, Deutsches Kaiserreich.«

Hatsch fiel beinahe die Kinnlade herunter, als er diesen Namen hörte. Mit offenem Mund stand er da und versuchte zu begreifen, was die Maschine auf den Zettel geschrieben hatte.

Auch Plitsch stand nur da und gaffte den Weihnachtsmann ungläubig an.

Wenn Sie, verehrte Leser, die Verwunderung der Elfen und das Seufzen des Weihnachtsmannes nicht verstehen, dann möchte ich Ihnen die Geschichte »Das große Rennen« ans Herz legen.

Rudolph fand als erstes seine Sprache wieder, was für ein Rentier schon enorm ist: »Hast du gerade ›Kate‹ gesagt?«, fragte er. Ebenso staunend wie die Elfen.

»Ja,« antwortete Santa kleinlaut, »vielleicht sollte ich noch einmal …«

Der Weihnachtsmann fuhr erschrocken zusammen als die, nun donnernde, Stimme von Miss Santa erklang: »Die Maschine irrt sich nie. Und ihr habt schon genug Zeit vertrödelt, Santa Claus!«

So nannte sie ihn nur, wenn sie wirklich böse auf ihren Mann war.

»Santa Claus! Du wirst die Entscheidung annehmen. Ich muss kurz dahin, wo auch der Kaiser allein hingeht. Wenn ich wiederkomme, bist du verschwunden, hast du das verstanden?«

»Natürlich Schatzilein.« Santa nickte und sah seiner davoneilenden Frau nach.

»Was mach ich denn jetzt?«, fragte er dann hilfesuchend in die Runde.

Plitsch und Hatsch zuckten nur mit den Schultern. Rudolph starrte in die Luft.

»Oh ja, vielen Dank für eure Hilfe.«, murrte Santa. »Na gut, dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig. Hatsch! Plitsch! Transport vorbereiten.«

Die beiden Elfen standen stramm, schlugen die Hacken zusammen und antworteten wie aus einem Munde: »Santa! Jawohl, Santa!«

Dann gingen sie schnellen Schrittes zu ihren Werkbänken und schalteten ihre Maschinen ein.

Beide griffen unter ihre Hemden, holten jeweils einen Schlüssel, der an einer Kette um ihren Hals hing, hervor und steckten diese gleichzeitig in zwei Schlösser in den Apparaturen.

Hatsch sah Plitsch an und dieser nickte. Zeitgleich drehten beide ihre Schlüssel.

Es klackte kurz und dann schoss ein Strahl gebündelten Lichts hinauf in den Nachthimmel. Gleichzeitig erstrahlte ein heller, leuchtender Kreis auf einer kleinen Plattform.

»Transport eingeleitet.«, sagte Hatsch, fast schon militärisch gedrillt.

»Sehr gut.«. Santa war zufrieden und wartete ab.

Verzeihen Sie mir, verehrte Leser, wenn ich jetzt einen Sprung mache, aber wir befinden uns nun nicht mehr am Nordpol, sondern in Berlin. Genauer gesagt am Standort der Kate Airlines. Ich verspreche Ihnen, wir sind gleich wieder zurück.

Die Dampfflügerpilotin stand gelangweilt vor ihrem Gefährt und auch Ox, ihr Heizer, hatte nicht gerade viel zu tun.

»Tu wenigstens so, als wenn du etwas machen würdest.«, herrschte Kate den Hünen an.

Der riesenhafte Mann schreckte auf und drehte sich zu seiner Chefin um. »Was soll ich denn machen?«, fragte er.

»Ist mir egal. Irgendwas.«, gab sie ihm unwirsch zur Antwort.

Ox überlegte. Und, wie sie vielleicht wissen, ist das bei dem Riesen immer ein schwieriges Unterfangen.

Schließlich schnappte er sich einen Schraubenschlüssel, trat an das Gefährt, das den klangvollen Namen ›Witch 4‹ trug, denn die Vorgänger hatte Kate allesamt in den Sand gesetzt, heran und tippte einmal kurz mit dem Schlüssel an eine Schraube.

Im gleichen Augenblick standen sie, also Kate, Ox und auch die Witch 4, in einem leuchtenden Lichtkegel.

»Was zum Hexensabbat?«, grollte Kate.

»Ich hab nix gemacht! Ich hab nix gemacht!«, brüllte der Heizer laut.

Und nur einen Augenblick später war der Dampfflügler verschwunden.

Kate riss die Augen auf und öffnete den Mund. Aber außer einem »Wrf.«, brachte sie keinen Ton heraus.

Und dann stand Ox plötzlich allein auf der Straße. Kate war, wie von Zauberhand, verschwunden. Genau wie die Witch 4.

Die Gehirnwindungen des Riesen waren, man muss es so sagen, nicht dafür ausgelegt, eine solche Begebenheit zu erfassen und zu bearbeiten. Denn er war, so hatte es auch schon Sherlock Holmes festgestellt, von kindlichem Gemüt und beschränktem Intellekt.

Als die Information: ›Dampfflügler weg. Kate weg.‹ zu ihm durchdrang und sich seine Synapsen gerade anschickten, diese zu verarbeiten, war auch er verschwunden.

Der Lichtkegel zog sich in sich zusammen und dann erlosch er.

Einzig und allein das Schild mit der Aufschrift ›Kates Dampfflügler. Jede Tour. Schnell. Bequem. Zuverlässig. Sonderpreis.‹ blieb zurück und zeigte an, dass hier mal etwas gewesen sein musste.

Zurück am Nordpol materialisierte sich Ox auf der leuchtenden Plattform. Direkt neben Kate und dem Dampfflügler.

»Willkommen am Nordpol.«, sagte Santa mit seiner tiefen Stimme und stellte sich in Positur.

Kate drehte sich langsam um, erblickte den Weihnachtsmann und hob die Hand. Dann zeigte sie auf Santa und sagte: »Brrpf.«

Sie knuffte Ox in die Seite und der Heizer öffnete den Mund. Nur kam kein Laut aus ihm heraus. Minutenlang stand er so da und gaffte den Weihnachtsmann an.

»Hallo?«, fragte Santa in die Stille hinein, denn er war sich nicht sicher, ob sie ihn wahrgenommen hatten.

»Hallo.«, antwortete Kate leise und wie in Trance, weiterhin auf ihn zeigend.

»Madame, äh … wären sie so freundlich und würden nicht mit ihrem Finger auf mich zeigen? Das ist recht ungehörig.«

Kate sah ihre Hand an, dann wieder den Weihnachtsmann und langsam ließ sie sie sinken.

Ihre Hexensinne hatten sie völlig im Stich gelassen und sie war keiner Antwort fähig. »Was …«, sagte sie nur und verstummte.

»Das … das …«, stotterte Ox und verfiel dann in seine alte Verhaltensweise: »Hrrr. Hrr.«

»Ich füchte, ich habe sie nicht ganz verstanden, wie meinen?«, fragte der Weihnachtsmann und sah die beiden irritiert an.

Rudolph stellte sich an seine Seite und flüsterte: »Du musst ihnen erklären, wo sie sind. Stell dich doch bitte nicht immer so an, wenn wir mal Gäste haben.«

Aber bevor Santa zu einer Erklärung ansetzen konnte, hatten sich die wenigen Gehirnzellen in Ox Kopf dazu entschlossen, das Sprachzentrum des Riesen zu nutzen. Und so rief dieser plötzlich: »Das ist der Weihnachtsmann. Kate, das ist der Weihnachtsmann. Das ist der Weihnachtsmann!«

Stolz reckte Santa seinen Kopf empor und antwortete mit einem spitzbübischen: »Jepp.«

Nun fiel endlich auch bei Kate die Starre ab. »Bitte? Wer soll das sein?«

»Na, der Weihnachtsmann. Guck doch: Schwarze Stiefel, roter Mantel, langer, weißer Bart und ein dicker Bauch.«

Bei der letzten Bemerkung zuckte Santa etwas zusammen. Rudolph unterdrückte ein Kichern. Die beiden Elfen-Mechaniker schauten auf den Boden, damit der Weihnachtsmann ihr breites Grinsen nicht bemerkte.

Schmollend murmelte dieser: »Also bitte, so dick bin ich ja nun auch nicht.«

Kate kommentierte die Worte von Ox: »Der Weihnachtsmann? Den gibt es nicht, Ox. Das ist nur eine Legende.«

Jetzt wurde Santa allerdings etwas böse und so sagte er ärgerlich: »Madame. Hexen gibt es auch nicht. Und? Hier stehen sie.«

»Woher wissen sie denn, dass ich eine Hexe bin?« Sie griff unmerklich an ihren versteckten Hexenstab, bereit, ihn jederzeit zu ziehen.

Vielleicht war dieser alte Mann mit dem weißen Bart ja ein Agent der Inquisition? Oder ein verkleideter Hexenjäger, der sie mit einem Trick dazu bringen wollte, ihre Identität preiszugeben?

»Wir wissen alles hier.«, antwortete Santa.

»Alles?«, fragte Ox erschrocken.

»Naja, nicht alles. Aber wir kennen ihre guten und ihre bösen Taten, ihren derzeitigen Wohnort und … äh … ja …« Santa sah Rudolph fragend an. Dieser schüttelte den Kopf. »Ja, das wissen wir halt.«

»Verdammt!«, entfuhr es Kate und Ox gleichzeitig.

»Äh, wir wären sehr erfreut, wenn sie Flüche in der Werkstatt des Weihnachtsmannes unterlassen würden. Das haben wir hier nicht so gern.«, sagte nun Rudolph und fing sich im gleichen Augenblick einen tadelnden Blick des Weihnachtsmannes ein.

Denn das Rentier hatte in diesem Moment eine eiserne Regel des Nordpols verletzt: Sprechen durfte er nur, wenn niemand anderes als Elfen, Santa, Weihnachtsrentiere oder, natürlich, Miss Santa anwesend waren.

Er biss sich auf die Lippen. Mist, dachte er. Das würde später wieder ein Gemecker geben.

»Der Hirsch spricht!«, rief Ox aus und wieder klappte ihm der Mund auf.

»Rentier. Ich bin kein Hirsch. So viel Zeit wird ja wohl sein.«, erwiderte Rudolph.

»Verzeihung. Ich hab noch nie ein Rentier gesehen. Ich dachte, sie wären ein Hirsch.«, gab Ox zur Antwort.

»Hirsche sind …«, begann Rudolph, doch Santa unterbrach ihn: »Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Ich erkläre ihnen, warum wir sie haben holen lassen.«

»Das wär´ ja mal ne Idee.«, sagte Kate und lockerte den Griff an ihrem Hexenstab. Allerdings blieb sie weiterhin wachsam.

»Sehen sie, es ist der Heilige Abend und waren gerade im Begriff, die Geschenke auszuliefern, da passierte uns eine dumme Sache mit dem Schlitten. Und damit das Weihnachtsfest in diesem Jahr nicht ausfallen muss, haben wir uns überlegt, einen Dampfflügler zu nutzen. Als Ersatzschlitten sozusagen.«

Die Pilotin strahlte auf. »Und da haben sie natürlich sofort an mich und meine Kate Airlines gedacht . Ich fühle mich geehrt.«

»Ahm …«, machte Santa. »Naja … ich muss zugeben, dass sie nicht unbedingt …«

Rudolph gab dem Weihnachtsmann einen kräftigen Stoß mit seinem Geweih.

»Äh, ja, genau. Sie sind unsere erste Wahl gewesen.«, sagte Santa schnell und grinste die beiden an.

»Das war eine gute Entscheidung.«, sagte Ox. »Kate ist die beste Dampfflüglerpilotin, die sie bekommen können.«

»Schleimer.«, erwiderte Kate. »Aber mein Heizer hat schon recht.«, fügte sie dann stolz hinzu.

Was solls, es ist Weihnachten. Lass sie in dem Glauben, dachte der Weihnachtsmann und sagte dann: »Trauen sie sich diese Fahrt zu?«

Kate schwieg. Dann verzogen sich ihre Mundwinkel zu einem Lächeln. Und schließlich lachte sie laut und kräftig: »Hahaha. Hast du das gehört, Ox? Ob wir uns das zutrauen. Hahaha. Was für eine Frage.«

»Ich nehme ihr Lachen als Zustimmung?«, fragte Santa verwundert nach.

»Das können sie, Weihnachtsmann, das können sie.«, antwortete Kate.

»Prima. Äh … dann sollten wir auch langsam mal starten, nicht wahr?«, denn jeden Moment könnte Miss Santa zurückkommen. Und wenn er dann noch hier wäre …

Kate drehte sich zu ihrem Heizer um und gab ihm den Befehl: »Ox! Witch 4 startklar machen.« Dann kletterte sie in die Fahrerkabine, setzte sich die Fliegerbrille vor die Augen und wartete ab.

Der Riese, durch diesen Befehl aktiviert, knallte seine Hacken zusammen und machte sich sofort am Propeller des Gefährts zu schaffen.

Es dauerte nur ein paar Augenblicke, dann war die Halle von Motorenlärm gefüllt und die weitere Konversation musste schreiend stattfinden.

»Sie sollten einsteigen, sonst heben wir ohne sie ab!«, brüllte Kate und Santa sah sich hilfesuchend nach den Elfen und dem Rentier um.

»Na los doch. Und vergiss den Sack nicht.«, schrie Rudolph. Er gab dem Weihnachtsmann einen kleinen Schubs.

»Was ist das denn?«, brüllte Kate und zeigte auf den Sack, den sich Santa gerade auf die Schultern geworfen hatte.

»Die Geschenke. Die müssen doch mit.«, antwortete der Weihnachtsmann.

»Was ist los? Was ist das? Sie müssen lauter sprechen, ich kann sie nicht verstehen!«, rief Kate und zeigte dabei erst auf den laufenden Propeller und dann auf ihre Ohren.

»Geschenke!«, brüllte Santa.

»Ui!«, rief Ox und beeilte sich, in seine Heizerkabine zu kommen. »Geben sie her. Den verstaue ich hier hinten. In der Gastkabine ist dafür kein Platz.«

»Nein, nein! Den geb ich nicht aus der Hand!«, rief Santa und im gleichen Augenblick schrumpfte der Sack so weit zusammen, dass er ihn bequem in einer Tasche seines Weihnachtsmantels verstauen konnte.

Jeder andere wäre bei diesem Vorgang wahrscheinlich überrascht gewesen, aber nicht Ox. Denn da er mit einer Hexe flog, hatte er schon Dinge gesehen … da war das nun wirklich nichts Besonderes.

Nachdem sich Santa gesetzt und ergebnislos nach dem Sicherheitsgurt gefragt hatte, brüllte Kate: »Flügel ausfahren!«

Ox zog an einem Hebel und die fledermausartigen Tragflächen fuhren aus der Witch 4 heraus.

Die beiden Elfen-Mechaniker konnten nicht mehr rechtzeitig aus dem Weg springen und so wurden sie von der Wucht der sich öffnenden Flugteile erwischt und in hohem Bogen durch die Werkstatt geschleudert.

Die Rotorstange schoß zwischen den Beinen des Weihnachtsmannes empor, der sich erschrocken in den Sitz klammerte.

Dann fächerten die Rotorblätter auseinander und begannen zu rotieren. Die Witch 4 erhob sich schon nach wenige Sekunden in die Luft.

Rudolph sah staunend zu. Doch dann wich das Erstaunen dem blanken Entsetzen.

Denn sie befanden sich in der Werkstatt und nicht im Hangar. Das hatten sie in der Eile völlig vergessen. Wie sollte sich der Dampfflügler …

Kate drückte auf einen Knopf und die Witch 4 raste in die Höhe, verharrte dort einen kurzen Moment und schoß dann nach vorn.

Gerade noch rechtzeitig warf sich Rudolph auf den Boden und entging so dem Zusammenstoß mit dem Fluggefährt.

»Wo iss’n hier der Ausgang?«, fragte Kate und drehte sich zu Santa um.

Dieser war durch die hohe Geschwindigkeit in seinen Sitz gepresst worden und hatte die Augen schreckgeweitet aufgerissen. Sie waren ja in der Werkstatt!

»Schauen sie doch nach vorn!«, brüllte er und versuchte, die Pilotin auf die nahende Wand aufmerksam zu machen.

Kate drehte sich langsam um und riss dann an ihrem Steuerhebel.

Der Dampfflügler vollführte eine 90 Grad Wende und flog auf die nächste Wand zu. Kurz vor dem Zusammenprall vollzog sie eine Kehre.

»Ja wohin denn nun?«, fragte Kate nach und der Weihnachtsmann deutete nach vorn. »Durch die Wand?«

Santa schüttelte den Kopf: »Das wäre die direkte Luftlinie. Wir müssen durch die Tür und dann …«

Doch Kate unterbrach ihn: »Das wird mir zu kompliziert. Ox! BB Raketen fertig machen!«

»Was?«, fragte Santa und sein Gesicht wurde kalkweiß.

Der Dampfflügler stoppte abrupt mitten in der Luft und es öffneten sich auf ein Kurbeln von Ox, zwei kleine Klappen in den Tragflächen. Zwei zylinderförmige Gebilde traten über einen Hebemechnismus aus diesen hervor.

»BB Raketen sind bereit.«, schrie der Heizer aus seiner Kabine zurück.

»Sehr gut.«, antwortete Kate. Sie schloss die Hände ineinander und ließ ihre Knochen knacken.

»Was sind BB Raketen?«, fragte der Weihnachtsmann.

Allerdings bekam er keine Antwort. Denn die Pilotin konzentrierte sich jetzt auf ein Fadenkreuz, welches hydraulisch aus dem Boden ausgefahren war.

»Sie können doch nicht … sie werden doch nicht … oder?«, stotterte Santa.

»Doch.«, sagte Kate und klappte zwei Verschlüsse an ihrem Steuerhebel auf. Darunter kamen rote Knöpfe zum Vorschein.

Ihre Daumen berührten diese, verharrten einen kurzen Moment und dann … drückte sie sie herunter.

»Feuer!«, brüllte die Pilotin und die Raketen machten sich auf die Reise. Grüne Flammen traten aus den Enden hervor und sie rasten auf die Wand zu.

»Oh mein Gott.«, murmelte Santa und Ox tippte ihm beruhigend auf die Schulter.

»Das wird schon. Das hab ich selbst entworfen und gebaut. Keine Panik.«, sagte er und versuchte zu lächeln.

Im gleichen Augenblick hatten die Raketen die Wand erreicht, berührten diese und blieben dann an ihr hängen.

Ox ging in seiner Heizerkabine in Deckung und auch Kate duckte sich in ihrer Pilotenkabine.

»Was tun sie denn da?«, wollte Santa wissen.

Unwirsch und schnell kam die Antwort von Kate: »Runter mit dem Kopp, Mensch!«

Santa warf sich mit dem Gesicht voran auf seinen Sitz. Und das keine Sekunde zu spät. Ein leichtes ›Klick‹ ertönte und dann gab es eine Explosion.

Rauch stieg auf. Grünlich schimmernde Trümmer flogen durch die Luft und verfehlten den Dampfflügler nur um Haaresbreite.

»Ox? Hat es geklappt?«, wollte Kate aus ihrer sicheren Deckung wissen.

»Keine Ahnung.«, brüllte der Heizer zurück.

»Dann sieh gefälligst nach.«

Der Riese hob langsam, sehr langsam, den Kopf und schielte nach vorn.

In der Wand vor ihnen klaffte ein riesiges Loch und verdutzt schauten ein paar Elfenköpfe daraus hervor.

Ox nahm eine stehende Position ein und sagte stolz: »Kannst hochkommen. Hat funktioniert.«

Die Pilotin erhob sich ebenfalls. Staunend betrachtete sie das Loch vor sich.

»Echt? Gute Erfindung, mein Lieber.«, sagte sie, wischte sich den Staub aus dem Gesicht und setzte sich wieder bequem in ihren Pilotensitz.

Dann klappte sie die Verschlüsse herunter, drückte den Steuerhebel nach vorn und die Witch 4 schoß durch das Loch hindurch. Direkt in den Hangar hinein.

»Aha, da gehts raus.«, sagte sie und dirigierte den Dampfflügler aus der Halle hinaus in den Nachthimmel.

Langsam rappelte sich auch Santa wieder auf. »Sie klangen etwas überrascht, Madame.«, sagte er und klopfte sich ab.

»Naja,« antwortete Ox, »wir haben die BB Raketen noch nie benutzt.«

Mit einem Ruck drehte Santa seinen Kopf zu dem Hünen um. Sein Gesicht war aschfahl geworden. »Sie haben sie … noch nie … aber doch sicher vorher getestet, oder?«, fragte er.

»Nö.«, antwortete Ox. »Die sind ja eigentlich nur für den Blauen Baron gedacht. Das man sie auch anders nutzen kann, ist natürlich praktisch.«

Der Weihnachtsmann sank in sich zusammen. Er fasste in seine Manteltasche und fingerte ein grün-rotes Weihnachtstuch hervor. Mit diesem wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

Eine ganze Weile flogen sie nun schweigend dahin. Irgendwann räusperte sich die Pilotin dann aber doch: »Hrmh. Sagen sie mal, wo gehts denn jetzt eigentlich hin? Ich mein … haben sie da ne Route oder einen Kurs oder sowas?«

»Wie?«, fragte Santa, sichtlich mitgenommen.

»Ja, ich denk, wir sollen ihnen helfen, Geschenke auszutragen. Machen sie das einfach so nach Lust und Laune oder gibt es da eine Reihenfolge?«

»Achso. Jaja.«, antwortete Santa und kramte wieder ein seinen Manteltaschen. Nach einer Weile gab er es aber auf.

»Verflixt.«, sagte er schließlich. »Den Streckenverlauf hat Rudolph im Kopf. Da kümmere ich mich eigentlich nie drum.«

»Das ist jetzt aber ungünstig, nicht wahr?«, fragte Kate. »Irgendwie muss ich ja schließlich wissen, wo ich hinfliegen soll.«

»Also Rudolph fliegt immer erst nach Kanada, dann Amerika, Russland, Europa … oder auch anders.«

»Einmal um die Welt? Wie sollen wir das denn schaffen? So viel Kohlen haben wir ja gar nicht.«, unterbrach ihn Kate. »Und dann die Zeit. Das schaffen wir ja nie in einer Nacht.«

»Das ist das kleinste Problem.«, entgegnete Santa. »Die Zeit ist angehalten, bis wir das letzte Geschenk ausgeliefert haben. Und um Kohlen brauchen sie sich auch nicht zu sorgen. Die gehen ihnen nicht aus.«

»Praktisch. Sagen sie, haben sie schon einmal daran gedacht, sich anderweitig zu orientieren? Ich könnte so einen wie sie gut brauchen. Gerade das mit der Kohle ist ja Gold wert.«

»Äh … nein … das äh … danke für das Angebot.«

»Schade. Naja, sie arbeiten ja auch nur einen Tag im Jahr. Das wäre bei uns natürlich nicht drin. Wir sind ja rund um die Uhr im Einsatz.«

»Ach?«, schaltete sich nun Ox erstaunt in das Gespräch ein. Ihm wäre es neu, dass sie ständig etwas zu tun hatten.

»Wolltest du was sagen?«, fragte Kate lauernd und kniff die Augen zusammen, während sie den Hünen drohend ansah.

»Äh … nein, nein. Du hast schon recht. Wir sind ja ständig beschäftigt.«, antwortete Ox, konnte es aber nicht verhindern, dass die letzten beiden Worte etwas langgezogen klangen. »Stäääändig.«, wiederholte er.

»Hm.«, machte der Weihnachtsmann. Insgeheim dachte er darüber nach, dass es schon seine Vorteile hatte, nur mit Rentieren zu fliegen. Die Fahrt verlief da irgendwie ruhiger.

Rudolph hatte genug mit dem Leiten der Weihnachtsrentiere zu tun und kam so kaum zum Quasseln.

Kate ließ den Steuerknüppel los und begann, in ihrer Fahrerkabine zu wühlen.

»Ähm, ich möchte mich sicher nicht einmischen und verstehe ja auch nichts von der Dampfflüglerrei, aber … sind sie sicher, dass sie ihren Steuerknüppel loslassen sollten?«, fragte Santa und wurde nervös.

Die Pilotin hob kurz ihren Kopf: »Was ist?«

»Ja, ich mein ja nur. Ich lass die Zügel auch nicht los, wenn ich fliege.«

»Achso, das. Keine Bange, ich hab den Autopiloten eingeschaltet. Die Witch 4 weiß, wo es langgeht.«, erwiderte Kate und versenkte ihren Oberkörper wieder in der Kabine.

Wenn es Dinge gibt, die man nicht tun sollte, dann gehört ›Lüge den Weihnachtsmann nicht an‹ dazu.

Denn die Witch 4 besaß überhaupt keinen Autopiloten. Es kam immer auf Wind und Wetter an, in welche Richtung sich das Fluggerät bewegte, wenn man den Dampfflügler sich selbst überließ.

Mehr als einmal war es nur Ox zu verdanken, dass sie nicht mit einem Berg, einem Baum, Zeppelin oder einem anderen Dampfflügler kollidierten.

Er hatte Kate immer wieder auf eine sich nahende Katastrophe aufmerksam gemacht. Und diese hatte dann, meist im letzten Moment, ihre Flugbahn noch korrigiert.

»Interessante Erfindung.«, meinte Santa. »Wie funktioniert so ein Autopilot?«. Er richtete seinen Blick auf den Heizer.

»Das … äh … technischer Kram, würden sie nicht verstehen.«, gab dieser als Antwort und tauchte in seiner Heizerkabine ab, darauf hoffend, dass der Weihnachtsmann nicht weiter nachfragen würde.

»Achso, ja dann. Ich bin technisch echt ne Niete. Das machen ja alles meine Elfen-Mechaniker. Ich steck nur den Schlüssel rein und das Ding läuft.«

Jetzt kam Kate wieder aus ihrer Kabine hervor. »Was für ein Schlüssel?«, fragte sie verwundert.

»Ach, vergessen sie’s.«

»Wie auch immer.«, entgegnete die Pilotin und hob dann ein Stück Papier in die Luft. »Zumindest habe ich gefunden, was ich gesucht habe.«

»Was haben sie denn gesucht, wenn ich fragen darf?«

»Ich war sicher, dass ich hier noch irgendwo eine alte Landkarte habe. Und ich hatte Recht. Jetzt haben wir zumindest einen Anhaltspunkt, wo wir hin fliegen können.«

»Das ist gut. Nehme ich an. Oder?«, fragte der Weihnachtsmann.

»Ja, das ist gut. Kanada, hatten sie gesagt?« Kate faltete die Karte auseinander.

»Ja, ja. Wir beginnen immer in Kanada. Zumindest sagte das Rudi.«

»Gut. Dann wollen wir mal schauen. Ka… Ka… ah, da haben wir es. Kanada.«

Dann vergrub sie ihren Kopf hinter der Karte und versuchte, sich zu orientieren. »Wir müssen dann … oder doch lieber da … nein, ich denke … doch, doch.«

Nach einer ganzen Weile drehte sie sich zu Santa um und fragte: »Was halten sie davon, wenn wir dieses Jahr mal improvisieren? Die Karte ist doch schon etwas älter. Das scheint sich alles geändert zu haben.«

Santa überlegte und kraulte sich den Bart. »Hm, improvisieren? Das ist eigentlich nicht meine Art. Wie stellen sie sich das denn vor?«.

»Ja, wenn ich ihnen das jetzt erklären könnte, dann wäre es ja schon wieder geplant, nicht wahr? Ich würde vorschlagen, wir fliegen mal einfach so und schauen, wo wir rauskommen.«

»Ja, wenn sie meinen.«, antwortete der Weihnachtsmann. Doch wohl war ihm nicht bei dem Gedanken. Das wäre das erste Mal, dass er von seiner gewohnten Route abweichen würde.

Die Pilotin hatte nun wieder den Steuerknüppel in der Hand. Sie kniff die Augen zusammen und schien in die Ferne zu schauen.

»Sehen sie mal, da vorn sind Lichter.«, sagte sie schließlich.

»Wo denn?«, wollte Santa wissen.

»Na da. Direkt vor uns. Das könnte ne Stadt sein. Soll ich da mal hinfliegen?«

Der Weihnachtsmann beugte sich vor und kniff ebenfalls die Augen zusammen. »Ja, das scheint mir auch eine Stadt zu sein.«

»Na dann,« rief Kate und drückte den Steuerhebel nach vorn. »Auf geht’s!«

Santa, von diesem Manöver völlig überrascht, verlor dabei den Halt und mit einem leisen ›Klonk‹, knallte sein Kopf gegen die Rotorstange. Nur einen Augenblick später wurde es schwarz vor seinen Augen und er verlor das Bewusstsein. Langsam sackte der Körper des Weihnachtsmannes in sich zusammen.

Kate steuerte auf die Lichter der Stadt, oder besser, des Dorfes zu und hielt den Dampfflügler dann in etwas Abstand mitten in der Luft an. Denn sie war nicht sicher, ob man sie und den Weihnachtsmann sehen durfte oder nicht.

»So. Da sind wir. Ich halte hier an. Wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie, ohne sich umzublicken.

Der Weihnachtsmann gab keine Antwort. Wie sollte er auch.

Die Pilotin wartete ein paar Minuten. Da sie eher zur Ungeduld neigte und sich dann schnell Ärger bei ihr aufbaute, knurrte sie: »Also wirklich. Sie müssen schon etwas sagen. Ich bin ja noch nie …«

Die weiteren Worte blieben ihr im Hals stecken. Ungläubig starrte sie den Weihnachtsmann an, der lang ausgestreckt auf dem Passagiersitz lag.

»Hat man da noch Töne. Ich flieg mir hier den Werwolf und der hohe Herr beliebt, ein Nickerchen zu halten.«, fauchte sie zornig. »Hey! Wir sind da. Was jetzt?«, fragte sie laut und als Santa wieder nicht reagierte, stupste sie diesen leicht an.

Der Arm des Weihnachtsmannes fiel schlaff nach unten.

Ein Schreckensschrei ertönte und dann brüllte Ox: »Der ist hin. Der ist tot. Kate, was hast du gemacht?«

»Red doch nicht so einen Unsinn. Der ist nicht tot.«, antwortete Kate. Aber so ganz sicher war sie sich nicht. Deswegen fühlte sie seinen Puls.

Puh, Glück gehabt. Das Herz des Weihnachtsmannes schlug.

»Kate!«, rief Ox, beugte sich über die Begrenzungsstangen seiner Heizerkabine hinweg und musterte Santa. »Der ist …«

Kate unterbrach ihn: »Der ist nicht tot. Der scheint mir bewusstlos zu sein.«

»Vielleicht verträgt er deinen Flugstil nicht?«, meinte der Heizer laut.

»Ich bin doch normal geflogen. Oder willst du das bestreiten?«

Ox überlegte. Nein, sie hatte recht. Wenn man diesen Flug mit allen vorherigen verglich, dann war das wirklich eine beinahe ereignislose Fahrt gewesen … bisher.

»Hm. Aber warum liegt der jetzt da?«, fragte Ox.

»Tja. Da kann ich mir auch keinen Reim drauf machen. Wir haben jetzt nur ein Problem.«

»Ja, ein bewusstloser Weihnachtsmann liegt in unserem Dampfflügler.«

»Gut, dann haben wir eben zwei Probleme.«

»Welches denn noch?«

Kate sah den Hünen an und schüttelte dann den Kopf. »Ox, ehrlich jetzt. Mit ein wenig nachdenken kommst du da auch drauf.« Kaum ausgesprochen, verfluchte sie sich selbst. Was hatte sie nur wieder gesagt.

Ox verfiel in eine Starre. Man konnte förmlich die Zahnräder in seinem Hirn klacken hören, während er angestrengt versuchte, nachzudenken.

Gut, dachte Kate, dann geben wir ihm die Minuten. Es hat ja eh keinen Sinn, jetzt etwas zu unternehmen.

Sie griff nach einer Zeitung in ihrer Kabine. Aether Gazette. Hexenausgabe. Die Pilotin schlug das Journal auf und begann zu lesen.

Dummerweise kannte sie die Ausgabe schon, aber sie musste jetzt die Zeit überbrücken, die Ox brauchen würde, um seinen Nachdenkprozess zu beenden. Aber wahrscheinlich war es wie immer: Es wäre ergebnislos.

Nach einigen Minuten vernahm sie ein leichtes Stöhnen. Sie schaute von ihrer Lektüre auf und den Weihnachtsmann an. Aber das Geräusch kam von Ox.

Langsam faltete sie die Gazette zusammen und verstaute sie wieder in ihrer Fahrerkabine. Das klingt jetzt allerdings aufgeräumter, als es war, denn Kate warf die Zeitung einfach wieder in den Fußraum zurück.

Sie sah den Heizer an und zählte innerlich bis 10. Und im gleichen Augenblick sagte Ox: »Ich weiß es nicht. Was ist das zweite Problem?«

Wie erwartet: Ergebnislos. Kate seufzte.

Nein, eine große Leuchte war Ox nicht. Aber er konnte zupacken und hatte auch mit schwerster, körperlicher Arbeit kein Problem.

»Wir wissen nicht, wie es weitergeht, Ox.«, begann Kate zu erklären. »Der Weihnachtsmann schnarcht hier vor sich hin, die Zeit verrinnt und wir haben keine Ahnung, was wir jetzt machen sollen.«

»Aber er hatte doch gesagt, dass Zeit keine Rolle spielt … oder so ähnlich.«, erwiderte Ox.

»Ja, das schon. Aber wir können doch jetzt nicht hier sitzen und warten, bis der Dicke wieder aufwacht. Das kann ja Stunden dauern. Oder stell dir mal vor, der ist in ein Koma gefallen. Dann dauert das vielleicht Tage, Wochen, Monate, bis der wieder wach ist. Bis dahin sind wir erfroren.«

»Oh, aus der Sicht habe ich das noch gar nicht betrachtet.«, antwortete Ox, beugte sich zu Santa herab und begann ihn zu schütteln. »Hey! Aufwachen! Komm schon, Weihnachtsmann, aufstehen!«

»Ox, lass den Unsinn. Du bringst ihn noch wirklich um, wenn du ihn da hin und herschleuderst.«

Der Riese ließ Santa los und dieser sackte erneut in sich zusammen. »Kannst du nicht was hexen?«, fragte er dann.

»Naja, ich könnte schon. Aber ich hab keine Ahnung, wie Hexenmagie und Weihnachtsmann zusammen passen. Dafür gibt es keinerlei Präzedenzfälle.«

»Hä?«, fragte Ox.

»Der Weihnachtsmann hat eigene magische Kräfte. Hast du ja gesehen, denk an den Geschenke-Sack. Und wenn ich nun hexe und sich seine Magie gegen meine stellt … das kann das Ende von allem bedeuten.«, versuchte Kate zu erklären.

»Du meinst, das große Bumm?«

»Ja, das große Bumm.«

»Oh. Das wäre nicht gut.«

»Nein, wäre es nicht.«

»Aber wir müssen doch was machen? Irgendwas?«

Kate überlegte. Ja, Ox hatte schon recht. Aber mit Weihnachten hatte sie noch nie etwas zu tun gehabt.

Sie versuchte, sich zu erinnern, was der Weihnachtsmann am Heiligen Abend zu tun hatte.

Er trug Geschenke aus. So viel wusste sie. Aber wie machte er das? Denn er selbst hatte ja gesagt, dass dieses rotnasige Rentier den Schlitten steuerte.

Hilfesuchend wand sie sich an den Heizer: »Ox, was weißt du von Weihnachten?«

»Öh … naja, nicht viel. Der Weihnachtsmann bringt den guten Kindern Geschenke. Und die Bösen verhaut er. Zumindest hat er das früher gemacht.« Dabei streichelte er sich leicht am Po.

»Aha. Und weißt du auch, wie er das macht?«

»Mit der Rute hintendrauf.«

»Das meinte ich nicht. Wie beschenkt er die guten Kinder?«

»Na mit Geschenken.«

Kate kniff die Augen zusammen und sie atmete schnell ein und aus. Dann versuchte sie es erneut: »Wie … hab ich gefragt.«

Ox versuchte, sich zu erinnern. Er selbst hatte ja als Kind nie mehr bekommen am Heiligen Abend, als eine ordentliche Tracht Prügel. Und das verdientermaßen, wie er zugeben musste.

Dann fiel ihm ein, was ihm die anderen Kinder erzählt hatten, wenn sie sich über ihn lustig machten, bevor er sie dann dafür verprügelte. Ein Teufelskreis eben.

Der Weihnachtsmann kam durch den Schornstein und legte die Geschenke unter den Baum. Genau. Das war es.

»Der kommt durch den Schornstein und legt die Geschenke unter den Baum.«, sagte er.

Kate sah ihn ungläubig an. »Bist du sicher? Durch den Schornstein?«

»So haben es die anderen erzählt. Da war noch was mit Milch und Keksen, aber das habe ich vergessen.«

Erneut überlegte Kate. Sie würde sich auf keinen Fall in einen Schornstein zwängen. Wer weiß, ob da nicht einer das Kaminfeuer hatte brennen lassen. Feuer und Hexen, das war eine Mischung, die sich nicht vertrug. Hatte es noch nie.

Ox war viel zu groß und mächtig. Der würde eher dafür sorgen, dass der gesamte Schornstein zu Bruch ging, bevor er da durchpasste. Nein, das mussten sie anders angehen.

Kate beugte sich wieder zu Santa hinunter und begann in seinen Manteltaschen zu wühlen.

»Was machst du denn da?«, wollte Ox wissen. »Du willst doch wohl nicht den Weihnachtsmann beklauen?«

»Red keinen Quatsch, Ox. Ich such den Geschenkesack. Denn den werden wir wohl brauchen.«

»Wir? Wofür?«, fragte der Heizer verwirrt.

»Da Santa, wie wir in der Hexensprache sagen, Out of Hexing ist, müssen wir die Geschenke ausliefern.«

Ox bliebt vor Erstaunen die Spucke weg. »Wir? Sowas können wir doch gar nicht.«

»Wir können auch einfach hier sitzen bleiben und elendig erfrieren. Wäre das besser?«, fauchte Kate zurück.

»Lass uns doch nach Afrika fliegen und dort warten, bis der Weihnachtsmann wieder aufwacht. Da ist es wenigstens schön warm.«

Die Pilotin öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch dann schlug sie nur die Hand vor die Stirn und atmete hörbar aus.

Innerlich versuchte sie, sich zu beruhigen, denn ihr Puls hatte sich in diesem Moment verzehnfacht. Zumindest hatte sie das Gefühl, gleich einen Herzinfarkt zu bekommen. Was für eine Hexe allerdings recht außergewöhnlich gewesen wäre.

Ganz langsam und betont sagte sie: »Ox. Halt den Mund.«

Der Hüne schaute betreten zu Boden.

Sie wühlte weiter in Santas Taschen und hielt alsbald den kleinen Sack in den Händen. »Na also. Da ist er ja.«

Kate besah ihn sich von allen Seiten. »Hm, da muss ein Trick sein. Oder Weihnachtsmagie.«

Ox schwieg. Obwohl es in ihm brodelte, etwas zu sagen. Aber er hielt sich eisern zurück.

Kate grübelte. Wie kamen sie nur an die Geschenke heran?

Der eiserne Wille von Ox war, wie üblich, schon wieder gebrochen und er sagte: »Kannst du den nicht einfach groß hexen? Oder ist das auch ein Bumm?«

»Hm, nein. Das dürfte kein Bumm werden. Ich glaube, ich probiere es einfach mal.«

Sie legte den Sack auf Santas Bauch ab, holte ihren Hexenstab hervor und zielte mit diesem darauf. Dann murmelte sie eine uralte Hexenformel: »Bas arkto verno di!«

Aus ihrem Stab schoß ein kleiner, grüner Blitz hervor, traf den Geschenke-Sack und hüllte diesen dann vollständig ein.

Und sie hatte Erfolg. Langsam wurde er größer und größer und größer und …

Die Witch 4 sackte ab. Das Gewicht des Sackes schien mit seiner Größe zu wachsen, was vermutlich an den in ihm enthaltenen Abermillionen an Geschenken lag.

Ox sah den Erdboden langsam näher kommen. Und sie wurden immer schneller, je mehr der Geschenke-Sack wuchs. Wenn das so weiterging, würden sie eine erstklassige Bruchlandung hinlegen.

»Äh, Kate, ich glaube, du solltest aufhören.«

»Wieso?«

»Weil wir abstürzen!«

»Takeno Ra!«, rief Kate schnell und stoppte damit die Vergrößerung des Weihnachtssackes. Allerdings ging es weiterhin abwärts.

»Verno bas arkto vi!«, schrie Kate einen erneuten Spruch.

Aus dem Sack wurde wieder ein Säckchen und der Dampfflügler fing sich. Er schwebte ruhig in der Luft.

Ox wischte sich mit einem grün-roten Weihnachtstuch den Schweiß von der Stirn.

Kate sah ihn an. »Wo hast du das denn her? Das sieht ja aus, wie das vom Weihnachtsmann. Du hast ihn doch wohl nicht etwa beklaut?«

»Ja, wo kommt das denn her?«, fragte Ox und steckte es schnell wieder in den Mantel des Weihnachtsmannes. »Ich hab es mir nur ausgeliehen.«

Die Pilotin schüttelte kurz den Kopf und sagte schließlich: »Wahrscheinlich hat der Schlitten von Santa irgendein Ausgleichsgewicht an Bord oder sowas. Das haben wir natürlich nicht.«

»Können wir nicht einfach ein Geschenkepäckchen herausfischen und das hext du dann groß?«, fragte Ox.

»Die sind doch viel zu klein. Das … hm, aber vielleicht …« Im Kopf der Pilotin bildete sich ein Plan. Und diesen teilte sie Ox auch mit: »Deine Idee war gar nicht so schlecht. Pass auf, wir machen das so: Du musst die Witch 4 steuern. Damit ich die Hände zum Hexen frei habe.«

Ox wehrte erschrocken ab: »Ich? Auf keinen Fall. Hinterher hab ich dann Schuld, wenn irgendwas passiert.«

Kate wurde wieder ärgerlich und sie schalt ihn: »Anders geht es aber nicht. Oder willst du hexen?«

»Das kann ich doch gar nicht.«, erwiderte der Riese verwirrt.

»Eben. Das kann nur ich. Logischerweise, weil ich eine Hexe bin. Also musst du steuern.«

Ox ergab sich seufzend in sein Schicksal und kletterte aus seiner Heizerkabine über den Weihnachtsmann hinweg in die Fahrerkanzel.

Kate tat das Gleiche, nur andersherum.

»Und jetzt?«, wollte Ox wissen.

»Du fliegst über die Städte, Dörfer und Länder, ich hexe. Sobald wir uns einem Schornstein nähern, hole ich mit Hexenkraft ein Geschenk aus dem Säckchen und im Flug vergrößern wir es dann.«

»Aber wir wissen doch gar nicht, wo wir das abliefern sollen und welches Geschenk in welchen Schornstein soll.«

»Darauf können wir keine Rücksicht nehmen. Die sollen froh sein, wenn wir überhaupt was ausliefern.«, entgegnete Kate und krempelte sich die Ärmel ihres Chez de Rois Kleides hoch.

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht.« Ox schüttelte den Kopf, denn er war von dem Plan nicht unbedingt überzeugt.

»Sabbel nich. Dat muss.«, antwortete Kate. »Und jetzt los. Aber keine Loopings!«

Ox drehte sich herum und heimlich äffte er sie dabei nach. Dann zog er am Steuerhebel und die Nase des Dampfflüglers erhob sich. Er überlegte ein letztes Mal, ob er nicht doch versuchen sollte, Kate von ihrem Plan abzuhalten. Aber es wäre sinnlos gewesen. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog sie das auch durch.

Ohne Rücksicht auf Verluste!

Da fiel ihm doch etwas ein und er drehte sich noch einmal zu der Pilotin um. »Was ist mit den Kohlen?«

Kate hob ihren Hexenstab und rief: »Erkto Idioto.«

Im gleichen Augenblick erschien ein durchsichtiges Abbild des Heizers neben ihr in der Heizerkabine. Dieses grinste sie an, hob den Finger an seine Melone und griff dann nach der Schaufel. Dann begann die Ox Kopie, Kohlen in den Kessel zu schaufeln.

»Vorwärts!«, schrie Kate und der echte Ox schob den Steuerhebel nach vorn.

Die Witch 4 heulte auf und dann schossen sie auf die Lichter des Dorfes zu.

Bald hatten sie das erste Haus erreicht und ein Schornstein kam in Sicht.

»Takto!«, rief Kate und aus dem kleinen Säckchen des Weihnachtsmannes erhob sich ein Paket, schwebte, beständig größer werdend, auf den Schornstein zu und fiel hinein.

»Siehst du?«, sagte die Pilotin erfreut. »Ist doch gar nicht so schwer. Weiter. Der nächste bitte.«

Nach kurzer Zeit hatten sie sämtliche Schornsteine des kleinen Dorfes beliefert.

»Haha!«, lachte Kate. »Das ist kinderleicht. Zum nächsten Dorf. Oder ist das eine Stadt? Ist ja auch egal. Weiter!«

Die ganze Nacht über flogen sie also von Dorf zu Dorf, Stadt zu Stadt und Land zu Land. Es kam auch vor, dass nach einem Dorf eine Stadt kam oder nach einer Stadt ein Dorf. Aber das ändert ja nichts am prinzipellen Ablauf.

Ox lenkte den Dampfflügler kreuz und quer über die Welt. Doch ohne vorgegebene Route, kam er manchmal durcheinander und sie besuchten ein Land zwei- oder sogar dreimal.

Kate hatte einen Heidenspaß und entwickelte sich zu einer regelrechten Schornsteinschützin. In Chicago zum Beispiel hielt sie sich die Augen zu, während sie die Geschenke verschoss. In London ließ sie die Päckchen kleine Loopings vollführen und in Paris machte sie Zielübungen, indem sie die Geschenke in der Luft mit dem Hexenstab herunterschoss.

Sie hatte bisher noch nicht einen einzigen Schornstein verfehlt. Ihre Trefferquote lag also bei 100%.

Dass sie Geschenke auch in Fabrikschlote abwarf, war ihr allerdings weder aufgefallen, noch hätte sie es gekümmert. Schornstein war Schornstein.

Doch irgendwann näherten sie sich schließlich dem Ende ihrer Reise.

»Das nenne ich mal Timing. Ich zähle noch drei Schornsteine. Und noch drei Geschenke. Die sind echt gut vorbereitet am Nordpol.«, sagte sie und dann hexte sie die letzten Päckchen in die Schornsteine der Iglus hinein.

»Wir sind fertig.«, rief die Pilotin triumphierend und fügte hinzu: »Jetzt zurück zum Nordpol.«

»Aye, aye, Käpt’n.«, sagte Ox und hielt inne. »Wo ist der denn?«

»Ja im Norden. Deswegen heißt er ja Nordpol.«

»Und wo ist Norden?«

»Komm, lass mich das machen.«, erwiderte Kate und kletterte in ihren Pilotensitz, während Ox zurück in die Heizerkabine krabbelte.

Dann, ohne dass es der Hüne bemerkte, murmelte sie leise: »Hexa Norta?«

Ein kleiner, grünlich schimmernder Pfeil erschien vor ihrem Gesicht und zeigte ihr den Weg. Sie flogen eine Schleife und bald schon waren die Lichter der Weihnachtssiedlung von Santa zu sehen.

»Oooooh.«, begann der Weihnachtsmann zu stöhnen, der in diesem Moment erwachte.

»Aha. Hatten der Herr eine angenehme Ruhe?«, fragte Kate belustigt.

»Wo … sind wir?«

»Auf dem Weg zurück zu ihrem Haus.«

»Zu meinem … was ist passiert?«

»Sie sind auf einmal ohnmächtig geworden. Aber keine Bange. Wir haben alle Geschenke ausgeliefert.«

»Ah, dann haben sie meine Liste gefunden?«, fragte Santa und Kate riss überrascht die Augen auf.

»Die … Liste?«, stotterte sie.

»Ja, die trag ich immer um den Hals. Damit ich mit den Geschenken nicht durcheinander komme. Das sind so viele, dass kann man sich ja alles gar nicht merken.«

Kate durchlief ein kalter Schauder. Wie hätte sie denn ahnen sollen …

»Jaja.«, sagte sie schnell und unmerklich vollführte sie eine Bewegung mit ihrem Hexenstab, murmelte »Listo brenno«. Mit einem leisen ›Pfff‹ verschwand das Papier aus Santas Brustbeutel.

Der Weihnachtsmann fasste sich an seine schmerzende Stirn. »Da hab ich ja ne Beule. Wo kommt die denn her?«

Kate und Ox zuckten mit den Schultern und der Dampfflügler setzte zur Landung an.

Mit immer noch wackligen Beinen stieg Santa aus und war sofort umringt von Rudolph und einer ganzen Horde an Weihnachts-Elfen.

»Ich möchte mich bei ihnen bedanken. Denn ohne ihre Hilfe …«, begann Santa.

Kate hatte es plötzlich sehr eilig und sagte nur: »So, wir sind dann mal weg. Haben ja noch einen langen Weg vor uns.«

»Ja gut, aber …«, sagte Santa.

»Sie brauchen sich nicht zu bedanken. Wir müssen jetzt echt los.«

»Aber das ist wirklich wich…«, versuchte es der Weihnachtsmann erneut. Aber wieder konnte er nicht ausreden.

»Schon gut. Gern geschehen. Frohe Weihnachten.«, rief Kate und der Dampfflügler erhob sich und nahm schnell Fahrt auf.

»Sie verstehe nicht … die Kohlen …«, rief Santa ihnen hinterher und versuchte ein letztes Mal, die Pilotin und ihren Heizer zurückzuhalten.

Kate winkte aus der davonfliegenden Witch 4 und schon nach wenigen Sekunden waren sie verschwunden.

»Was war denn das?«, wollte Rudolph wissen.

»Ich habe keine Ahnung, was in die beiden gefahren ist. Ich wollte sie doch noch drauf hinweisen, dass sie keine Kohlen für einen Rückflug haben, wenn ich ausgestiegen bin.«

Das Rentier sah in die Ferne, in der Kate und der Heizer verschwunden waren. »Tja.«, sagte er dann. »Ich bin sicher, sie werden es früh genug erfahren.«

An Bord der Witch 4 fragte Ox nach einer schweigenden Weile: »Warum sind wir denn so schnell aufgebrochen?«

»Das musste sein.«, antwortete Kate. »Wenn die merken, dass wir die Geschenke nicht nach Liste ausgeliefert haben … aber woher sollten wir das wissen?«

»Die hatten ne Liste?«, fragte Ox verwundert.

»Ist jetzt auch egal. Die sollen froh sein …« In diesem Moment begann der Motor des Dampfflüglers zu stottern.

»Ox, Kohlen schippen!«, rief Kate dem Heizer zu.

Das Ox-Abbild stand allerdings noch immer neben dem Kessel, zuckte mit den Schultern und zeigte dann auf ein letztes kleines Brikett.

»Spiegel-Ox meint, wir haben keine Kohlen mehr.«, sagte der echte Ox.

Kate fuhr herum. Der falsche Ox zuckte wieder mit den Schultern.

»Verschwindo Idioto.«, sagte Kate und zeigte mit ihrem Stab auf das Abbild, welches im gleichen Augenblick verpuffte.

»Aber wie kann das sein? Der Weihnachtsmann hat doch gesagt, wir brauchen uns da keine Sorgen machen.«, sagte Ox und überlegte.

Kate lief rot an. »Dieser … es ist doch wirklich nicht zu fassen. Lässt uns wegfliegen und sagt nix.«

»Naja,« meinte Ox, »du hast ihn ja nicht ausreden lassen und …«

Aber die Pilotin hörte ihm nicht zu und regte sich weiter auf: »Unverantwortlich, dieser Weihnachtsmann. Oh, warte, wenn ich den in die Finger kriege. Warum beugst du dich eigentlich so weit nach vorn?«

»Ich beug mich ja gar nicht vor, aber ich glaube, wir stürzen ab.«

Kate drehte sich wieder um und im gleichen Moment krachten sie mit lautem Scheppern in eine Schneewehe hinein.

Schneespuckend kamen sie alsbald wieder daraus hervor.

Ein eisfischender Eskimo sah sie staunend an.

»Hallo.«, sagte Ox und klapperte mit den Zähnen.

»Kalt habt ihr´s hier.«, sagte Kate und schlang die Arme um ihren Körper.

Der Eskimo sah sie mitleidig an.

»Haben sie hier etwas, wo man sich aufwärmen kann?«, fragte Kate schlotternd.

Mit einem Finger wies ihnen der Eskimo den Weg zu einer kleinen Iglusiedlung.

»Dahaanke.«, sagte Kate und stapfte los. Ox folgte ihr.

»Iihich fffürchtteee, wir brauchen einen neuheuen Dampfflügler, Ox.«

»Hrr.«, antwortete der Heizer.

Nach einem Monat Aufenthalt bei den Eskimos, wurden sie von einer vorbeikommenden Forschergruppe schließlich mitgenommen und waren einen weiteren Monat später wieder zu Hause in Berlin.

Sie schworen sich, nie wieder etwas mit dem Weihnachtsmann zu tun haben zu wollen.

Das war auch ganz gut so, denn Santa hatte sich, nach wochenlangen Beschwerden über falsch ausgelieferte oder komplett verschwundener Geschenke, ebenfalls dazu entschlossen, nie wieder etwas mit einer Dampfflüglerpilotin zu tun haben zu wollen.

Rudolph allerdings freute sich. Standen doch jetzt immer drei nagelneue Ersatzschlitten zur Verfügung.


Ende

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